Der hl. Severin in Cucullis/Kuchl
Leseprobe aus dem Buch "Der Georgenberg", Autor: Wilfried Kovacsovics
Über den Beginn der Christianisierung in der Provinz Noricum informieren nur vereinzelte, aber ohne Zweifel wichtige und zuverlässige Quellen. Auf welchem Wege und zu welchem Zeitpunkt das Christentum tatsächlich nach Noricum kam, geht aus ihnen nicht hervor, doch bezeugen sie, dass die Christianisierung hier spätesten im 3. Jahrhundert einsetzte und dass es bereits gegen Ende des 3. Jahrhunderts vor allem entlang der Donau kleinere christliche Gemeinden gab. Die Christianisierung der Provinz hatte somit noch vor dem Kurswechsel begonnen, der von Kaiser Konstantin I. (306-337) im Jahre 313 mit der Mailänder Übereinkunft vorgenommen wurde. Mit dieser Übereinkunft war dem Christentum volle Glaubensfreiheit zugesichert worden, mit der konstantinischen Wende stieg die christliche Kirche sogar zur wichtigsten, staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaft auf.
Zuvor war die Kirche noch auf das Schwerste durch Verfolgung und Unterdrückung geprägt, die letzte große Christenverfolgung fand im Jahr 304 unter Kaiser Diokletian (284-305) statt, der seinerseits große Reformen zur Reorganisation der Verwaltung durchführte. Mit den Reformen stellte sich kurzfristig auch eine spürbare Verbesserung im Bereich der Staatsführung ein, die Krise des 3. Jahrhunderts wurde überwunden und der Reformkurs von Konstantin I. weiter verfolgt. Langfristig gelang es allerdings nicht, das Römische Reich vor dem drohenden und endgültigen Zusammenbruch zu bewahren. Bereits um die Mitte des 4. Jahrhundert spitzte sich die Lage allerorts erneut zu, und auch Noricum war zu dieser Zeit geradezu unablässig den Angriffen feindlicher Germanenstämme ausgesetzt.
Zu den Quellen gehören archäologische Befunde und Funde, aber auch zwei besondere literarische Zeugnisse, die als solche auch gerne an- und ausgeführt werden: auf der einen Seite der Bericht über das Martyrium des hl. Florian, die sog. Passio Floriani, und auf der anderen Seite die Lebensbeschreibung des hl. Severin, die Vita sancti Severini.
Die im Jahr 511 verfasste Vita sancti Severini enthält für ganz Noricum gültige Aufschlüsse. Zum einen enthält sie Informationen über den Grad, den die Christianisierung in Noricum in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts erreichte. Zum anderen vermittelt sie wesentliche und wertvolle Einblicke in die politische und wirtschaftliche Situation dieser Zeit. Es wird u.a. mitgeteilt, dass die Provinz Noricum ripense damals erneut und weiterhin von schweren Unruhen bzw. den Wirren der beginnenden Völkerwanderung betroffen war. Es war die Zeit, in der die Truppen des Hunnenkönigs Attila nach dessen Tod (453) durch Noricumzogen, und auch die Zeit, in der vom hunnischen Joch befreite Germanen, darunter Alamannen und Rugier, ihre Angriffe gegen das Römerreich wieder aufgenommen hatten. Die nördliche Grenze wurde immerzu überschritten und das Land weiter geplündert und ausgebeutet. Zur selben Zeit lösten sich auch allmählich die letzten Reste der römischen Verwaltungs- und Armeestrukturen auf. Die Grenzkastelle wurden der Reihe nach aufgegeben, da keine ordentliche Versorgung mehr gesichert und gewährleistet war. Im Jahr 476 kam es dann zum Ende der regulären Verteidigung des norischen Donaulimes. Die Zivilbevölkerung zog sich, wenn nicht getötet, geflohen oder vertrieben, in die geräumten Kastelle und auf befestigte Orte, auf gesicherte Anhöhen zurück, während das flache Land weiter verwaiste.
Severin war ein „Gottesmann bzw. Mann und Knecht des Herrn“, er war ein Missionar und Klostergründer, aber auch ein „vir illustrissimus“, ein charismatischer und gebildeter Einzelgänger, ein entschieden auftretender Diplomat und Politiker. Er übte militärische und administrative Funktionen aus, organisierte die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Kleidung, verhandelte mit den Germanen, mit Königen der Alamannen und Rugier, und mit ungebrochenem Einsatz rief er stets zu Gebet, Buße und Almosengeben auf. Zu seinen Wirkungsstätten gehörten zunächst im Gebiet von Niederösterreich Asturis/Zwentendorf oder Klosterneuburg, Comagenis/Tulln und Favianis/Mautern, das seinerseits zu einem Zentrum seiner Tätigkeit wurde und eine Klostergemeinschaft erhielt. Zu einem späteren Zeitpunkt kam er in die Gegend von Passau, nach Joviaco/Schlögen, Boiotro/Passau-Innstadt bzw. rechts des Inn und Batavis/Passau links des Inn, und noch weiter nach Raetien, in die Gegend von Quintanis/Künzing. In Boiotro/Passau-Innstadt richtete er auch ein zweites Kloster ein. Zumindest zweimal zog er zwischendurch zudem in das norische Binnenland, nach Iuvavum/Salzburg und Cucullis/Kuchl, um auch hier auf Einladung der Ortsbewohner das religiöse Leben zu stärken. Die Vita bezeugt, dass das Christentum in Noricum zur Zeit Severins bereits weit entwickelt war und auch das Kirchenwesen systematisch ausgebaut war.
Der hl. Severin und sein Wirken in Kuchl:
So ergiebig die Vita nun als Dokument für die Geschichte Noricums im Ganzen ist, so wichtig ist sie speziell auch für die Spätzeit des römischen Kuchl, in dem ihrerseits zwei Ereignisse spielen. Denn sie zeigt und unterstreicht, dass es hier ein castellum, eine in der Spätantike angelegte und befestigte Höhensiedlung gab, und sie beweist, dass es in dieser Siedlung einen frühchristlichen Kirchenbau gab. Die Vita bezeugt außerdem, dass es hier im Hinterland des Limes, im so genannten Rückzugsgebiet, aber auch noch Reste einer Bevölkerung gab, die noch dem Heidentum frönte und noch immer im Geheimen alte Riten und Kulte vollzog.
Aufgrund der Angaben der Vita und der Befunde, die archäologische Grabungen beigebracht haben, gehen wir aber auch davon aus, dass der Georgenberg das Castellum Cucullis war und dass die im Bereich der Georgskirche nachgewiesene und in die Zeit um 400 datierte erste Kirche auch jener Kirchenbau ist, den der hl. Severin wenigstens zweimal betrat. Im Übrigen ist diese 1962/63 aufgedeckte Kirche auch bisher die einzige archäologisch nachgewiesene frühchristliche Kirche in Salzburg, sieht man einmal von einem Bauwerk ab, das Hermann Vetters 1958 auf dem Residenzplatz in Salzburg angeschnitten und als Rest eines kleinen frühchristlichen Oratoriums gedeutet hatte.
Die Passagen, die Kuchl betreffen, finden sich in Kapitel 11 und 12 der Vita, und obgleich sie schon mehrfach vorgestellt wurden, bringen wir die Texte auch hier in voller Länge in einer Übersetzung von Rudolf Noll:
Als noch die oberen Städte Ufer-Noricums bestanden und fast kein einziges Kastell von den Überfällen der Barbaren verschont blieb, stand der heilige Severin in derartig hohem Ansehen, dass ihn die einzelnen Kastelle um die Wette einluden, als könne er ihnen die Mauern ersetzen; denn sie glaubten, es könne ihnen in seiner Gegenwart kein Unglück widerfahren. Es geschah dies nicht ohne den Willen der göttlichen Gnade, damit alle durch seine Ermahnungen wie durch himmlische Orakel erschreckt würden und sich nach seinem Beispiel durch gute Werke wappneten. So war der heilige Mann infolge der ergebenen Bitten der Bevölkerung auch in ein Kastell namens Cucullis gekommen, wo ein großes Wunder geschah, das ich nicht verschweigen kann; kennen wir es doch aus dem erstaunlichen Bericht des Marcianus, der später unser Presbyter wurde und ein Einwohner dieses Ortes war. Ein Teil des Volkes hielt an einem bestimmten Orte am heidnischen Opferdienst fest. Als der Mann Gottes von diesem Frevel erfuhr, hielt er zahlreiche Ansprachen an das Volk, bestimmte die Presbyter des Ortes, ein dreitägiges Fasten anzusetzen, und befahl, dass aus allen Häusern Kerzen mitzubringen seien, die jeder eigenhändig an den Kirchenwänden befestigte. Nachdem der übliche Psalmengesang beendet war, forderte der Mann Gottes zur Stunde des Gottesdienstes die Presbyter und Diakone auf, mit ganzer Hingabe mit ihm zusammen den gemeinsamen Herrn zu bitten, er möge zur Entlarvung der Gottlosen das Licht seiner Erkenntnis leuchten lassen. Als er nun so unter vielen Tränen mit ihnen lange auf den Knien gebetet hatte, da wurde plötzlich der größte Teil der Kerzen, welche die Gläubigen herbeigebracht hatten, durch göttliche Fügung entzündet; unangezündet blieb hingegen der Rest der Kerzen, nämlich die jener Leute, die den erwähnten heidnischen Opfern verfallen waren, dies aber in dem Wunsche, unerkannt zu bleiben, geleugnet hatten. So wie sich also die Leute, welche diese Kerzen aufgestellt hatten, durch das Gottesurteil entlarvt sahen, schrien sie plötzlich auf und verrieten die Geheimnisse ihres Herzens genugsam durch ihre Rechtfertigungsversuche und gestanden, durch das Zeugnis ihrer eigenen Kerzen zu einem öffentlichen Geständnis gebracht, ihren Götzendienst. O gütige Macht des Schöpfers, der die Kerzen und Herzen entflammt! Entzündet wurde ein Licht an den Kerzen und strahlte wider in den Gemütern. Das sichtbare Licht ließ den Stoff des Wachses zu Flammen schmelzen, aber das unsichtbare löste die Herzen der Geständigen in Tränen auf. Wer möchte es glauben: die, welche in freventlichem Irrtum verstrickt waren, haben sich nachher noch mehr durch gute Werke hervorgetan als jene, deren Kerzen von Gott entzündet worden waren.
Ein andermal wieder hatte sich im Gebiete desselben Kastells ein Schwarm von Heuschrecken, Vernichtern der Feldfrucht, niedergelassen und verwüstete alles mit den verderblichen Beißwerkzeugen. In ihrer Bestürzung über dieses Unglück wandten sich alsbald die Presbyter und alle übrigen Ortsbewohner mit dringenden Bitten an den heiligen Severin und sprachen: „Wir bitten zur Befreiung von dieser schrecklichen Plage um die erprobte Hilfe deiner Gebete, deren gewaltigen Einfluss beim Herrn wir unlängst anlässlich des großen Wunders kennengelernt haben, als die Kerzen durch Himmelsmacht entzündet wurden.“ Er aber sprach gar fromm zu ihnen: „Habt ihr nicht gelesen, was Gott dem sündigen Volk durch den Propheten befohlen hat: „Bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen, mit Fasten und mit Tränen“, und kurz darauf: „Heiliget ein Fasten, ruft das Volk zusammen, versammelt die Gemeinde“ und so weiter? Erfüllt also in würdiger Weise, was ihr nur lehrt, damit ihr dem augenblicklichen Unheil schnell entkommt. Es soll aber ja niemand auf sein Feld hinausgehen, als ob er durch menschliches Bemühen den Heuschrecken Einhalt gebieten könnte, damit Gottes Unmut nicht noch mehr herausgefordert wird.“ Unverzüglich versammelte sich alles in der Kirche, und ein jeder sang der Reihe nach wie gewöhnlich seinen Psalm. Jegliches Alter und Geschlecht, auch wer es nicht in Worten tun konnte, betete unter Tränen zu Gott, unaufhörlich wurden Almosen gegeben und nach den Vorschriften des
Gottesdieners gute Werke vollbracht, wie es die augenblickliche Notlage erforderte. Während sich nun alle derartig betätigten, ließ ein ganz armer Mann das angefangene Gotteswerk im Stich und ging zum Acker hinaus, um nach seiner eigenen Saat zu sehen, die ganz klein zwischen den übrigen Saatfeldern lag. Und voll Angst verscheuchte er den ganzen Tag mit größtem Eifer die darüber schwebende Wolke von Heuschrecken, und dann ging er in die Kirche zur Kommunion. Seine bescheidene Saat aber, die von vielen Fruchtfeldern der Nachbarn umgeben war, hat der Heuschreckenschwarm kahlgefressen. Als die Heuschrecken in jener Nacht auf Gottes Befehl aus dieser Gegend verbannt wurden, zeigte es sich, wieviel ein frommes Gebet vermag. Als nämlich am Morgen der unbesonnene Verächter des heiligen Werkes schlechten Gewissens wieder auf seinen Acker hinausging, fand er ihn durch die Heuschreckenpest bis auf den Grund kahlgefressen vor, dagegen alle umliegenden Saatfelder unversehrt. In fassungslosem Erstaunen kehrte er trauernd und jammernd ins Kastell zurück, und als er den Vorfall erzählt hatte, eilten alle hinaus, um ein derartiges Wunder zu sehen, wo die gefräßigen Heuschrecken das Saatfeld des eigensinnigen Menschen wie mit einem Lineal kenntlich gemacht hatten. Da warf er sich allen zu Füßen und bat unter vielem Wehklagen durch ihre Fürsprache um Verzeihung für sein Vergehen. Deshalb fand der Mann Gottes hier eine Gelegenheit zur Ermahnung und unterwies sie alle, sie sollten lernen, dem allmächtigen Herrn zu gehorchen, dessen Befehle sogar die Heuschrecken befolgen. Der erwähnte Arme aber brachte kläglich vor, später werde er in allem übrigen den Geboten gehorchen, wenn ihm irgendeine Hoffnung, sein Leben zu erhalten, geblieben wäre. Da sprach nun der Mann Gottes zu den anderen folgendes: „Es ist billig, dass der Mann, der euch durch seine Selbstbestrafung ein warnendes Beispiel hinsichtlich Demut und Gehorsam gegeben hat, durch eure Freigebigkeit die Nahrungsmittel für dieses Jahr erhält.“ Es wurde also unter den Gläubigen eine Sammlung veranstaltet, und der gleicherweise geschädigte wie bereicherte arme Mann lernte verstehen, welch großen Schaden Ungläubigkeit bringt und welch große Wohltat Gott in seiner Freigebigkeit seinen Verehrern erweist.
Zum Verständnis der Vita-Angaben:
Die beiden Schilderungen, sowohl das Kerzenwunder als auch die Geschichte der Heuschreckenplage, zählen vielleicht zu den schönsten Stellen der Vita. Die ergreifenden Worte verdeutlichen aber auch die gewollte Absicht des Schreibers, der die Leistungen des hl. Severin uneingeschränkt als eine Wundertat, als eine jeweils nur durch Wunder bewirkte Tat lobt. Die vorrangige Intention des Eugippius war es demnach, die großen Wundertaten Severins aufzuzeigen und für die Nachwelt aufzuzeichnen. Eugippius wollte, so u. a. auch Rudolf Zinnhobler in einer Arbeit, die sich mit der Vita, dem Leben und der Verehrung des Heiligen beschäftigt, nicht Geschichte schreiben, sondern eine Heiligengeschichte. Die Vita stelle keine historische Arbeit, sondern eine biographische und noch mehr hagiographische dar. Das sei also zu berücksichtigen, wenn man die Vita liest und über die Wunder erfährt. Im Mittelpunkt steht die überhöhte Darstellung des Beschriebenen, die überhöhte Darstellung seiner Leistungen mit Beispielen aus dem Leben des Heiligen. Die Taten werden unter dem Aspekt des Wunderbaren umgeformt und unter Unterdrückung der eigentlichen Fakten unmittelbar mit Gott in Verbindung gebracht. Als Prophetie wird angezeigt, so Zinnhobler ebenso, was wahrscheinlich nur Ergebnis eines gut ausgebauten Nachrichtennetzes war oder als Wunder wird angeboten, was Fleiß, Umsicht und gute Organisation zuwege gebracht haben. Der Zweck des Werkes ist dennoch ein mehrfacher: eine Erinnerung an die Taten des Heiligen, die vorerst nur mündlich tradiert und weitergegeben wurden, die Vita diente außerdem der weiteren Verbreitung der Verehrung des Severin sowie der Würdigung einer noch jungen Mönchsgemeinschaft. Für uns interessant sind aber darüber hinaus die Informationen und Angaben über die innere Gliederung der Kirchengemeinden. Die Gemeinden, und darunter auch Cucullis/Kuchl, besaßen Priester bzw. Presbyter und Diakone, es gab eine ausgeprägte Liturgie mit abendlichen Gottesdiensten, Feiern und Andachten, mit Psalmen- und responsorialem Gesang. Nicht zuletzt wird auch einen Bürger von Cucullis/Kuchl mit Namen erwähnt: Marcianus, ein Priester, auf den sich Eugippius beim Kerzenwunder beruft und der später zudem als Abt des Klosters in Lucullanum bei Neapel begegnet.